Auf dem Weg von einem Geschlecht zum anderen

Transidentität ist ein Phänomen, das immer stärker Einzug in die gesellschaftliche Debatte, aber auch in die Medizin findet. An der Universitätskinderklinik Bochum wird dieses Thema nicht nur mit der erforderlichen klinischen und wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit, sondern auch mit Respekt und Sensibilität behandelt.

Am 1. Januar 2019 hat der Bundestag das Personenstandsgesetz (PStG) angepasst. Menschen, die wegen ihrer Entwicklung weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können (Intersexuelle), haben nun die Möglichkeit, im Geburtenregister neben den Angaben „männlich" und „weiblich" sowie dem Offenlassen des Eintrags eine vom Bundesverfassungsgericht geforderte weitere Bezeichnung wählen: „divers". Dies trifft auf Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie / Transidentität nicht zu. Biologisch handelt es sich um gesunde, fortpflanzungsfähige Mädchen und Jungen, deren Geschlechtsidentität nicht mit der Geschlechtszuweisung bei der Geburt übereinstimmt.

Anders gesagt: Diese Kinder und Jugendlichen haben eine „normale“ weibliche oder männliche Geschlechtsidentität, nur ihr Körper passt nicht dazu. Mit Einrichtung einer Stiftungsprofessur für Kinderendokrinologie und Diabetologie mit dem Schwerpunkt „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ nimmt sich die Universitätskinderklinik Bochum unter Leitung von Prof. Annette Richter-Unruh dieses Themas sowohl in der Forschung als auch in der Behandlung engagiert an.

Die Zahlen für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie / Transidentität steigen nicht nur in Deutschland rasant an. Allein in Bochum werden 550 Familien betreut. Die Ursachen für diese Zunahme sind noch unklar.

Lukas‘ Geschichte steht für so viele . . .

Prof. Annette Richter-Unruh, die in Deutschland zu den führenden Spezialisten auf diesem Gebiet in zählt, umschreibt die entscheidenden Ziele ihrer Arbeit: „Wir möchten zum Beispiel in die Entwicklung des jungen Transmannes Lukas eintauchen, der seinen Angleichungsprozess bereits hinter sich hat und seine Gedanken zu seiner Geschlechtsentwicklung in früher Kindheit, Jugend und in der Angleichungszeit offenlegt. Es sind Erfahrungen eines Individuums, die beispielhaft, aber nicht zu verallgemeinern sind. Sie bieten einen guten Einstieg in die Beweggründe eines Transmenschen und seiner Geschlechtsanpassung.“

Was Lukas (Name geändert) beschreibt, empfinden viele Transjugendliche. Scharf beobachtet er, dass sein Umfeld den Anfang seiner Transidentität sucht. Dass das transidente Empfinden an ein Auslöseereignis gebunden ist, ist eine häufige, aber meist falsche Grundannahme – auch wenn immer mal wieder Betroffene von einem Erlebnis berichten, bei dem sie sich ihrer Transidentität bewusst geworden sind.

Lukas: „Wenn ich mich an den ersten Moment in meinem Leben erinnere (…) fällt mir ein: Ich stand in einem Zimmer, war sehr nervös und murmelte innerlich diesen einen Satz immer wieder vor mich hin: ,Mama, ich möchte ein Junge sein.‘ Aufgeregt ging ich zum Badezimmer und blieb im Türrahmen stehen. Ich beobachtete meine Mutter. Sie fragte mich sanft, was ich möchte. (…) Innerlich schrie ich diesen Satz in die Welt hinaus, jedoch atmete ich einfach nur aus, sagte nichts, ging zurück in mein Zimmer und wartete darauf, in den Kindergarten gefahren zu werden. Nicht, dass ich Angst vor meiner Mutter hatte, nein, sie war immer verständnisvoll. Ich hatte eher Angst, sie mit diesem Satz zu enttäuschen. Denn sie hatte sich doch immer ein Mädchen gewünscht. Zu dem Zeitpunkt war ich vier Jahre alt.“

Tatsächlich fühlen sich viele Betroffene bereits in früher Kindheit nicht ihrem zugeschriebenen Geschlecht zugehörig. Zugleich wird ein weiterer, auch wissenschaftlich beobachteter Aspekt deutlich: das Eingestehen der Transidentität gegenüber sich selbst („inneres Coming Out“) und gegenüber der Außenwelt („äußeres Coming out“). Letzteres ist häufig geprägt von der Sorge zu enttäuschen sowie abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden.

Lukas: „Seitdem ich (…) zurückdenken kann, habe ich mich zu keinem Zeitpunkt (…) mit meinem angeborenen Geschlecht identifizieren können. Ich benahm mich so, wie ich es für richtig hielt und dieses Verhalten (…) glich eher dem von Jungen. Alles (…), Kleidung, Spielzeug, Frisuren, was ich für mädchenhaft hielt, bewirkte bei mir Unwohlsein. Immer, wenn ich mit meinem Mädchennamen angesprochen wurde, glich es einer tiefsitzenden Beleidigung. (…) Meine langen Haare schnitt ich mir (…) zum Teil selber ab, worauf wir endlich zu einem Frisör gingen. Endlich weniger äußerliche Weiblichkeit!“

Viele Möglichkeiten die Geschlechtsidentität zu kaschieren

Neben der Angleichung von optischen Merkmalen und typischen Geschlechterrollen kam für den kleinen Jungen das Problem hinzu, dass er weibliche Attribute hatte, die er nicht verbergen konnte. Glücklicherweise hat die Transszene unterdessen längst Möglichkeiten entwickelt, den eigenen Körper entsprechend der empfundenen Geschlechtsidentität zu kaschieren, z.B. durch das Abbinden der weiblichen Brust oder des Penis‘.

Für manche Betroffenen sind diese Eingriffe nur ein Übergang während der medizinischen Geschlechtsangleichung, für andere ein dauerhafter Weg, Operationen und andere Maßnahmen zu umgehen. Dabei darf man nicht dem Irrtum unterliegen, dass transidente Jugendliche gern im Rampenlicht stehen. Die meisten wollen in ihrem als zugehörig empfundenen Geschlecht authentisch, aber unauffällig leben und ihre Transidentität geheim halten.

Viele Eltern berichten, dass sie das Outing ihrer Kinder wie eine Erklärung für die Besonderheit empfanden. Auch können viele erst durch den medialen oder persönlichen Kontakt zu Transidentität ihr Empfinden begreifen und eingestehen. Das gleichzeitige Erleben der Pubertät mit Gleichaltrigen eröffnet außerdem den Ausweg aus der sozialen Isolation.

Prof. Richter-Unruh: „Gerade dieser Effekt des Zusammenspiels mit Gleichaltrigen birgt aber auch die Gefahr einer falschen Selbstdiagnose. Wir raten daher zu einer sehr sorgfältigen Reflexion über die Chancen, aber auch die Risiken einer Geschlechtsangleichung – zumindest noch in der Zeit vor der Volljährigkeit.“

Lukas: „Mutter sagte, dass es nicht einfach werden würde, was mir (…) bewusst war, jedoch gab es absolut keinen anderen Weg. Trotzdem waren die folgenden Jahre anstrengend. Ich dachte: Sieht denn niemand, wie sehr ich leide?

Und einfach wurde es tatsächlich nicht. Für Lukas, inzwischen 27 Jahre alt, folgen einige Jahre des Kämpfens gegen die Zeit, gegen Ämter und daraus resultierende Diskriminierung. In Gesprächen beschrieb er, wie er den Wechsel zwischen Fort- und Rückschritt meisterte und sich in seiner Schule behauptete. Am Ende dieser langen Durststrecke stehen mit 15 Jahren der Beginn der geschlechtsangleichenden Hormontherapie und ab 18 dann Operationen.

Seine erste ist die Entfernung der weiblichen Brust: „Ab hier konnte mich nun nichts mehr stoppen. Als das größte (…) Merkmal, meine Brust, verschwand, fühlte ich mich frei. Frei vom täglichen Abbinden, frei vom versteckten Umziehen und endlich konnte ich mit ins Schwimmbad. Das schönste Erlebnis (…) war die erste Dusche danach. Das erste Mal, dass ich das Duschen und meinen Körper nicht gehasst (…) habe. Ich fühlte mich angekommen. Mein Weg zu mir selbst hat Jahre gedauert. Ich habe es geschafft, mein Leben völlig zu ändern und der zu sein, der ich immer sein wollte.“

Sophia, die Mutige!

Die Geschichte der elfjährigen Sophia weist viele Parallelen auf. Sophia und ihre Eltern waren bereit, von ihren Erfahrungen in einem Filmbeitrag zu berichten. Sophia wusste schon sehr früh, dass sie eigentlich ein Mädchen ist. Aktuell steht die Unterbrechung der männlichen Pubertätsentwicklung an.

Eine erfahrene Kinder- und Jugendpsychiaterin hat bestätigt, dass bei Sophia eine Geschlechtsdysphorie vorliegt. Das soziale Umfeld berücksichtigend, ist eine zielgeschlechtliche Hormontherapie mit weiblichen Hormonen geplant, so dass sich eine weibliche Brust entwickelt. Später kann eine Angleichungsoperation mit Entfernung von Penis und Hoden sowie der Anlage einer Vaginalplastik erfolgen. Dann wird auch körperlich nicht mehr zu erkennen sein, dass Sophia als Junge geboren worden war. (aru/vp)