Wenn Angst die Macht ergreift

Wer Lara Schiefer heute erstmals begegnet, käme auf den ersten Blick nie auf die Idee, dass sie unter Depressionen leiden könnte. Mit frischer Gesichtsfarbe, sportlich frisierten Haaren und jugendlicher Kleidung kommt sie entspannt und optimistisch daher. Doch der Eindruck täuscht. Sie hat schwere Zeiten hinter sich. 

Schon viermal war sie wegen ihrer Depressionen im Martin-Luther-Krankenhaus Wattenscheid akut in stationärer Behandlung. Angefangen hatte es 2011. Ihre Ehe ging auseinander, die Kinder waren damals 14 bzw. 16 Jahre alt. Ein tiefer Einschnitt für jeden, besonders aber für Menschen, die ohnehin über sich selbst sagen: „Mit Veränderungen tue ich mich schwer und mit der Bewältigung von Krisen auch.“

Tiefe Traurigkeit empfinden im Leben viele Menschen. Aber wie weit ist der Weg von dort in eine Depression? Wie groß ist das Risiko, nicht nur mal ein Tief durchmachen zu müssen, sondern tatsächlich schwer zu erkranken? Nach ihrer ersten Krankenhaus-Therapie 2011 erhielt Lara Schiefer Antidepressiva: „Danach hatte ich fünf Jahre Ruhe.“ 2018 jedoch brachen die Probleme wieder auf. Es senkte sich wieder jener berüchtigte schwarze Vorhang, von dem viele Depressionskranke so furchtvoll sprechen.

Da gibt es dann keine Schwankungen, keine zwischenzeitlichen Tiefs, sondern wochenlang das schiere Nichts, nicht selten begleitet von purer Angst und Panikattacken. Dies kannte die Bochumerin schon aus ihrer Kindheit über sechs Jahre hinweg mit entsetzlicher Regelmäßigkeit.

Anfängliche Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen steigern sich in totale Antriebslosigkeit und Herzrasen. Auch dann, wenn man vorher durchaus fröhlich im Leben gestanden und sich Ziele gesetzt hatte.  Die Bochumerin bringt es so auf den Punkt: „Ich gab mich auf, ließ alles Positive hinter mir, fühlte mich verloren und fremdgesteuert. Die Angst hatte Macht über mich. Sich das einzugestehen ist das Schlimmste.“ Soziale Kontakte werden vernachlässigt, das Selbstwertgefühl nimmt immer mehr ab.

Auch 2019 und 2020 folgten weitere Klinikaufenthalte. Mit strukturierten Tagesabläufen unter ärztlicher therapeutischer Kontrolle. Mit Familien- und Paargesprächen, Entspannungsübungen, Akupunktur, autogenem Training, Ergotherapie, Sport, frühmorgendlichen Spaziergängen, Gruppen- und Einzelgespräche mit Therapeuten und Bezugspersonen. Auch die vielen Gespräche mit anderen Patienten, die gleich betroffen waren, sind wertvoll. Die Behandlung im Martin-Luther-Krankenhaus hat die 52-Jährige als außerordentlich professionell und wertvoll empfunden.

Als vollends geheilt betrachtet sie sich allerdings auch heute nicht, dazu sitzt der Stachel der quälenden Erfahrungen zu tief: „Ich muss mich draußen neu beweisen und bin nicht mehr in einem behüteten Raum.“ Auch Tabletten benötigt sie weiterhin.

In vielen Fällen kann Depression ambulant bei niedergelassenen Therapeuten behandelt werden. Allerdings stehen für psychische Erkrankungen zu wenige Praxen zur Verfügung, so dass die Wartezeit oft mehrere Monate beträgt. Unzumutbar bei akut auftretender Depression. In schweren Fällen muss der Patient ohnehin in die Klinik.

Für Lara Schiefer ist klar: „Da kommt man nicht allein heraus.“ Mehrfach dachte sie an Suizid, zuletzt noch im vergangenen Jahr. Wie oft habe sie gehört, dass man sich doch endlich mal zusammenreißen solle. Auch ihr Ex-Ehemann und ihre Mutter brachten für ihre Leiden wenig Verständnis auf. Und das, obwohl Depression in der Familie ein bekanntes Phänomen hätte sein müssen: Schon ihr Vater, dessen Mutter und Großmutter hatten unter derselben Krankheit gelitten. Dies erfuhr Lara Schiefer erst, nachdem sie selbst 2011 erkrankt war.

Inzwischen hat sich auch noch die Tochter von ihr distanziert. Sie hatte sich für ihre Mutter verantwortlich gefühlt und meinte, selbst versagt zu haben, als dann doch wieder die Suizidgedanken aufkamen. Hinzu kamen Schwierigkeiten im Beruf. Dennoch hält das Leben auch viele schöne Dinge parat. Der wache Blick ist ihr geblieben, die Tatkraft auch.

Längst hat sie einen neuen Partner gefunden, der viel Verständnis für ihre Krankheit aufbringt. Mit ihm zieht sie jetzt aus beruflichen Gründen nach Niedersachsen. Weg aus dem Ruhrgebiet. Neue Umgebung, neue Wohnung, eigentlich ändert sich fast alles. „Ich mache einen Neuanfang“, sagt sie mit ruhiger, fester Stimme.

Gute Chancen für die Behandlung

So bedrückend eine Depression sein mag, es gibt auch positive Nachrichten. „Sie ist stationär gut zu behandeln. In den meisten Fällen erreichen wir einen signifikanten Erfolg“, sagt der Chefarzt der Psychiatrie im Martin-Luther-Krankenhaus Wattenscheid, Dr. Jürgen Höffler. „Wir können dem Patienten viel mit auf den Weg geben.“ Damit die Verbesserung nachhaltig bleibt, muss er nach der Entlassung aus der Klinik allerdings ambulant weiterbehandelt werden und für eine gewisse Zeit weiterhin Tabletten nehmen.

In der Klinik beginnt der Tag um 6.30 Uhr mit freiwilligem Jogging oder Walking. Anschließend treffen sich alle Patienten, Ärzte und Pflegekräfte zur Morgenrunde, bevor – nach dem Frühstück – ab 9 Uhr Ergotherapie und Gruppengespräche folgen. „Wir trainieren soziale Kompetenz und zielen auf die Stärkung der Selbstsicherheit ab“, sagt Stationsleiterin Eva Scholz. Sie arbeitet seit 31 Jahren mit Depressionskranken und greift auf einen riesigen Erfahrungsschatz zurück.

In diesen Gesprächen werden Geschichten über typische Alltagsereignisse erzählt und diskutiert. Sich selbst wiederzuerkennen und sich Dinge bewusst zu machen, die vielleicht verlorengegangen sind, ist dort ein wichtiges Ziel. Und natürlich Gleichgesinnte zu treffen.

In Gruppengesprächen, die auch am Nachmittag stattfinden, entsteht häufig eine erstaunliche Dynamik. Vertreten sind sowohl Patienten, deren Klinikaufenthalt sich schon dem Ende zuneigt, als auch solche, die gerade erst mit der Therapie beginnen.

Dieser Gedankenaustausch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln hilft enorm. Auch hier erkennen die Patienten, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind. Es wird aber kein Stundenplan abgearbeitet, sondern flexibel auf individuelle Bedürfnisse reagiert. So kann gebacken und gekocht werden, in anderen Gruppen können wissenswerte Fakten über die Depression ausgetauscht werden („Psychoedukation“). Der Chefarzt selbst macht regelmäßig Visite und übernimmt in besonderen Fällen die Krisenintervention, etwa wenn ein Patient Suizidgedanken hat oder Impulse hat, sich selbst zu verletzen. Abends wird häufig gemeinsam gespielt, besonders gern mit Puzzles. Fernseher auf dem Zimmer sind bewusst nicht vorhanden. Dass sich Patienten abends dorthin zurückziehen, soll weitgehend vermieden werden, um die gegenseitige Kommunikation möglichst hoch zu halten.

Dr. Höffler nennt fünf Ansatzpunkte der Behandlung: Psychotherapie, Pharmakotherapie, Bewegung und Sport, Ergotherapie sowie – ganz wichtig – der Umgang miteinander auf der Station („Milieu-Therapie“). Jeder Patient hat während seines gesamten Klinikaufenthaltes eine feste Bezugsperson, sowohl auf Seiten der Ärzte wie auch der Pflegekräfte. Dadurch entsteht ein besonderes Vertrauensverhältnis, was manche Patienten, so Eva Scholz, „in ihrem Privatleben gar nicht mehr gewohnt waren“. Die Ursachen einer Depression sind unterschiedlich. Genetische Häufung in der Familie, ein Übermaß an Last und Leid, das sich in der Vergangenheit aufgebaut hat sowie chronischer Stress. Oft kommen auch mehrere Ursachen zusammen. Frauen erkranken häufiger als Männer, durchaus schon in jungen Jahren ab dem 20. Lebensjahr oder verstärkt in den Wechseljahren.