Das gefährliche Abgleiten in die Tablettensucht

Die Sucht war immer da, so lange sie zurückdenken kann. Fast ihr ganzes Leben lang. „Das zieht sich durch wie ein roter Faden“, sagt Gudrun Woznicka. Begonnen hat es schon in ihrer Kindheit. „Mein Vater war sehr krank und bekam vom Arzt Valium verschrieben“, erinnert sich die 68-Jährige an eine alles andere als glückliche Kindheit. „Da bin ich einfach drangegangen. Der Vater hatte ja so viele Tabletten, der hat das gar nicht gemerkt. Es hat mir geholfen, den Tag zu überstehen mit den ganzen Pflichten, die ich als Achtjährige schon hatte.“

Mit 15 Jahren kamen Appetitzügler hinzu. „Als junges Mädchen war ich ziemlich dick und traf dann eine Freundin, die sehr schlank geworden war. Das wollte ich auch.“ Eine erste leise Ahnung, dass sie abhängig von diesem Medikament war, bekam Gudrun Woznicka, als es ihr Schlankheitsmittel nicht mehr frei verkäuflich in der Apotheke gab.

Doch Tabletten – zum Schlafen, gegen Schmerzen – bestimmten weiterhin ihr Leben: „Sie haben mich leben lassen. Ja, ich habe mir schon Gedanken gemacht – aber ich hatte ja Kinder, für die ich da sein musste. Ich musste ja funktionieren.“

1,5 bis 2 Millionen Medikamentenabhängige, schätzt Dr. Jürgen Höffler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Martin-Luther-Krankenhaus Wattenscheid, gibt es in Deutschland. Abhängig sind sie meist von Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen oder von opioidartigen Schmerzmitteln. Oder sogar von beidem.

„Es gibt am Anfang vielleicht einen guten Grund, solche Medikamente zu nehmen – doch dann bekommt es oft eine Eigendynamik und verselbstständigt sich. Und am Ende steht eine Medikamentenabhängigkeit“, sagt Dr. Höffler. Bis sie erkannt wird, geht meist viel Zeit ins Land. „Von den Abhängigen kommen viele gar nicht in die Behandlung, sondern betreiben das über Jahre und Jahrzehnte.“

Auch bei Gudrun Woznicka dauerte es Jahre, bis sie ihre Abhängigkeit behandeln ließ. Dazu brauchte es aber erst einmal einen kompletten Zusammenbruch. „Ich habe damals im Altenheim gearbeitet und hatte immer schlimme Rückenschmerzen. Der Orthopäde sagte irgendwann, er könne mir nicht jeden Tag Spritzen geben und hat mir Tramal verschrieben.“

Von dem opioidhaltigen Schmerzmittel nahm Gudrun Woznicka anfangs die vorgeschriebene Dosierung von dreimal zwanzig Tropfen. „Später war es dann die ganze Pulle.“ Da habe sie selbst den Notarzt angerufen und gesagt: „Ich kann nicht mehr.“ Acht Wochen hat sie als Patientin auf der Station 18 der Klinik für Psychiatrie verbracht, „und ich hab’s geschafft, ich bin nicht abgehauen, ich habe durchgehalten“.

Was nicht selbstverständlich ist, wie Dr. Höffler weiß. „Wenn man mit den Tabletten aufhört, geht es einem von unangenehm bis ganz übel. Man nimmt eine Durststrecke auf sich. Es kann leider auch passieren, dass Patienten im Laufe der Behandlung sagen: Dann konsumiere ich lieber weiter.“

„Abdosierung“ heißt der körperliche Entzug des Suchtmittels im Fachjargon. „Man kann die Abdosierung offen oder verdeckt machen“, erklärt Oberärztin Susanne Wenzel. Bei letzterer bekommen die Patienten ein Gemisch aus ihrem Suchtmittel, Bittertropfen und Saft.

„Sie wissen aber nicht, wie viel von ihrem Suchtmittel noch drin ist“, sagt Susanne Wenzel. Sechs bis acht Wochen dauert eine solche Behandlung, während der die Patienten engmaschig betreut werden. „Es gibt hier immer einen Ansprechpartner“, sagt die pflegerische Leiterin der Station 18, Heike Schlaupitz. „Menschen nehmen ja solche Stoffe, weil sie eine Geschichte haben. Das muss aufgefangen werden.“

Aufgefangen mit Gesprächstherapie, einzeln und in der Gruppe, mit Entspannungstraining, mit allem, was Struktur in den Tag bringt. „Wir erarbeiten mit den Patienten die Vor- und Nachteile des Konsums“, erzählt Heike Schlaupitz. Dabei werden auch die körperlichen Auswirkungen der Sucht thematisiert.

„Medikamentensucht führt in der Regel zu weniger körperlichen Folgeschäden als zum Beispiel schwerer Alkoholkonsum“, sagt Dr. Höffler. Aber: „Die Menschen verflachen, wirken dumpf, schwingen nicht mehr so mit.“ Hinzu kommen häufig Konzentrationsstörungen. „Es ist etwas sehr Schönes, den Patienten nach einer versteckten Abdosierung sagen zu können: Sie haben es geschafft“, sagt Susanne Wenzel. „Wenn sie dann erfahren, dass sie schon seit einer Woche nichts mehr von „ihrem“ Stoff bekommen.“

Wichtige Aufgabe der Patienten ist es, mit dem noch vorhandenen Suchtdruck umzugehen. „Denn der Suchtdruck ist ja da und füllt den ganzen Kopf aus“, weiß Heike Schlaupitz. „In dieser Situation gibt es kein links und kein rechts mehr und der Patient meint, er kommt da nicht mehr raus.“

Dann gelte es, dem Suchtdruck einen noch stärkeren Reiz entgegenzusetzen: mit Gerüchen, einem kontrollierten Schmerzreiz oder Kälte. In der letzten Phase der stationären Behandlung kommt deshalb der Notfallkoffer der Station 18 zum Einsatz: gefüllt mit Chilibonbons, Brausetabletten, einem Kopfmassagegerät und vielem mehr.

„Ziel ist es, dass der Patient lernt: Er kann sich ablenken, er muss dem Suchtdruck nicht nachgeben.“ Auch nicht, wenn er gezielt mit „seinem“ Stoff konfrontiert wird. Zum Schluss der Behandlung erfolgt dann eine Belastungsprobe: Der Patient darf ein Wochenende zu Hause verbringen. Ist es dann geschafft, gehört es zum weiteren Konzept, dass die Patienten auch nach der stationären Behandlung einen Ansprechpartner haben, zum Beispiel bei der Suchtberatung oder in einer Selbsthilfegruppe.

Nicht immer ist ein erster Entzug von Dauer. „Am Anfang habe ich mich geschämt, weil ich ein zweites Mal hierhin musste“, sagt Gudrun Woznicka. „Heute sage ich mir: Es war gut.“ Tabletten zum Einschlafen waren es, die sie wieder auf die Station 18 geführt haben.

Wenn Menschen über Schlafstörungen klagen, nehmen sie mitunter Medikamente, die über eine Dosissteigerung in die Abhängigkeit führen. Um an Tabletten zu kommen, hatte Gudrun Woznicka ein System entwickelt. Statt nur abends nahm sie die Präparate irgendwann auch tagsüber. „Einmal habe ich fast 48 Stunden geschlafen. Als ich anschließend in den Mülleimer schaute, habe ich gezählt, dass ich fast 100 Tabletten genommen hatte.“

Insgesamt viermal war Gudrun Woznicka mittlerweile zur Behandlung in Wattenscheid. Mittlerweile, sagt sie, habe sie gelernt, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. „Ich bin krank, ich muss mich dafür nicht schämen.“ Die Sucht, weiß sie, steckt in jeder Zelle ihres Körpers. Doch heute weiß sie, damit umzugehen. „Ich habe sehr viel von hier mitgenommen, nur nicht alles auf einmal. Man muss über Probleme reden, man muss sich Hilfe holen. Und hier war immer einer da, mit dem ich reden konnte. Man hat mir hier einen Weg gezeigt, aber gehen musste ich ihn selbst.“

Heute sei sie ein anderer Mensch: „Ich bin nicht mehr die, die alles schluckt.“ Das merkt auch ihre Umgebung. „Frau Woznicka hat Riesenfortschritte gemacht“, lobt Heike Schlaupitz. Was würde Gudrun Woznicka anderen Menschen raten, um nicht in diese Sucht zu verfallen? „Die Öffentlichkeit sieht Tablettensucht als nicht so schlimm an wie Alkoholismus“, sagt sie. „Das muss sich ändern.“ Und nach kurzem Überlegen fügt sie hinzu: „Man muss auf sich aufpassen, immer den Beipackzettel lesen, ob Medikamente süchtig machen können. Vor allem muss man sich andere Hilfe suchen, nicht die Tabletten. Denn die helfen ja nur kurz.“