Diabetes, Bluthochdruck, Rückenleiden: Sie sind bekannt als Volkskrankheiten, erste Anlaufstelle ist der Hausarzt. Was aber, wenn einen eine so genannte „seltene Erkrankung“ trifft? Eine, an der nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen erkranken? Die deshalb wenig erforscht ist und für die es deshalb auch nur wenige Behandlungsansätze gibt? Und was, wenn eine solche Seltene Erkrankung ein Kind trifft? Ein neues Projekt unter der Leitung von Prof. Boris Zernikow (Chefarzt Kinderpalliativmedizin und Deutsches Kinderschmerzmedizin, Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln - Universität Witten/Herdecke) und Prof. Corinna Grasemann (Leitung Centrum für Seltene Erkrankungen Ruhr - CeSER, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Katholischen Klinikum Bochum - Ruhr-Universität Bochum) soll die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessern. Der Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses fördert das Vorhaben.
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung. „Selten“ bedeutet: Nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen sind von der Erkrankung betroffen. Die Zahl der möglichen Krankheiten ist dafür umso höher: Insgesamt sind mehr als 6.000 seltene Erkrankungen bekannt. Auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben seltene Erkrankungen. Für sie stellen sich besondere Fragen bei der Behandlung der Erkrankung, bei ihrer Versorgung und dem Blick in die Zukunft.
Nun erproben fünf Universitätskliniken mit Zentren für seltene Erkrankungen in Augsburg, Bochum, Datteln, Dresden und Würzburg neue Wege in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen. Das Projekt mit dem Namen B(e) NAMSE soll die Versorgungsqualität spürbar und messbar steigern – durch eine engere Verzahnung von Prozessen beispielsweise durch den Einsatz von Telemedizin und eine bessere Überleitung der Patient:innen von Kinder- und Jugendärzten in die Erwachsenenmedizin – Transition genannt. „Eine seltene Erkrankung bringt mit sich, dass die Patient:innen bisweilen viele Ansprechpartner und Anlaufstellen sehen, mit allem Aufwand und allen Reibungsverlusten, die dabei entstehen“, erläutert Boris Zernikow den Grundgedanken des Projektes: „Wir möchten all diese Prozesse besser zusammenbinden, die Experten auch digital an einen Tisch holen und die weitere Behandlung gemeinsam mit unseren Patient:innen und ihren Familien planen.“ In den Fallkonferenzen arbeiteten zukünftig Mediziner:innen, Psycholog:innen und Case Manager:innen zusammen, erläutert Corinna Grasemann: „Wir werden dort nicht nur die Diagnostik und Therapie besprechen, sondern auch Schulungen der Betroffenen und ihrer Familien zum Umgang mit der Erkrankung planen – sowohl persönlich als auch telemedizinisch.“
Die neuen Prozesse werden wissenschaftlich begleitet: Die Universität Witten/Herdecke und das gemeinnützige Forschungs-Unternehmen PedScience aus Datteln untersuchen, ob sich die Qualität der Versorgung durch die neue Herangehensweise verbessert. Prüfen werden sie auch, wie die Familien und die Versorgenden die neue Versorgungsform erleben und wie viel sie kostet.
Projektpartner von B(e) NAMSE sind außerdem die Techniker Krankenkasse, die Barmer, die AOK PLUS, die AOK Bayern, die Mobil Krankenkasse, das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sowie das Institut für Medizin-Informatik am Universitätsklinikum Frankfurt. Die Patient:innenperspektive bringt die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. ein.
Das Projekt wird über einen Zeitraum von 3 ½ Jahren mit rund 8,8 Millionen Euro vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert.
Weitere Informationen
B(e) NAMSE. Der Projektname B(e) NAMSE beinhaltet drei Elemente. Die Bezeichnung „B“, das englische Wort „be“ (deutsch: sein) und die Bezeichnung NAMSE für das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Das NAMSE ist ein Koordinierungs- und Kommunikationsgremium mit dem Ziel, eine bessere Patientenversorgung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen auf den Weg zu bringen. NAMSE ist ein Zusammenschluss zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und ACHSE e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) mit 25 Bündnispartnern. NAMSE bündelt bestehende Initiativen, vernetzt Forschende und Ärzt:innen und führt Informationen zusammen. Seit dem Jahr 2014 erfolgt die Versorgung von Seltenen Erkrankungen anhand eines dreistufigen Zentrenmodells. Die Umsetzung der NAMSE – Typ A Zentren in die Regelversorgung inklusive Zertifizierung und Finanzierung ist auf den Weg gebracht. Die mögliche multiprofessionelle Arbeitsweise der NAMSE Typ B Zentren wird in dem Projekt „be namse“ (B(e) NAMSE) erprobt und wissenschaftlich evaluiert.
Vestische Kinder- und Jugendklinik – Universität Witten /Herdecke
Die Vestische Kinder‐ und Jugendklinik Datteln - Universität Witten/Herdecke ist eine der größten und leistungsstärksten Kinder‐ und Jugendkliniken der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist eine regional und überregional tätige Kinder‐ und Jugendklinik mit breitem Behandlungsspektrum und mehr als 9.000 stationären und bis zu 60.000 ambulanten Patient:innen, die in 20 verschiedenen Fachbereichen betreut werden. Als Kinder‐ und Jugendklinik der Universität Witten/Herdecke arbeitet sie auf dem Niveau einer Universitätsklinik. In den Jahren 2006 bis 2010 wurde in einem eigenen Trakt das erste Kinderpalliativzentrum Deutschlands errichtet. Mit Förderung des Landes NRW, der RTL Stiftung - Wir helfen Kindern und zahlreicher Einzelspenden konnte auf dem Dach des Kinderpalliativzentrums das über 9 Millionen teure OP-Zentrum mit Namen LichtHafen realisiert und im Oktober 2022 eröffnet werden. Von der Klinik werden mehrere Fachzentren für Seltene Erkrankungen (sogenannte NAMSE B Zentren) betrieben, beispielsweise für Epidermolysis Bullosa, seltene Schmerzerkrankungen im Kindesalter, seltene Schlaferkrankungen oder seltene neuropädiatrische Krankheitsbilder.
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Katholischen Klinikum Bochum
Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Bochum ist ein Haus der Maximalversorgung und betreut jährlich über 4.500 Patienten stationär und 33.000 Patienten ambulant. Die Gesamtklinik bietet ein breites Spektrum in den pädiatrischen Schwerpunkten Neonatologie, Neuropädiatrie, Stoffwechselmedizin, Endokrinologie und Osteologie, Diabetologie, Rheumatologie, Pneumologie, Schlafmedizin, Immunologie und Allergologie, Gastroenterologie sowie Kardiologie an. Mit der Abteilung für Seltene Erkrankungen ist das A-Zentrum des CeSER an der Klinik angegliedert. Überdies sind zwei Medizinische Versorgungszentren für Pädiatrische Radiologie sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Klinik angesiedelt. Darüber hinaus hält die UKK Bochum ein Forschungsdepartement für Kinderernährung und eine Kinderschutzambulanz vor und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Krankheitsprävention.
An der Klinik sind mit den Fachzentren (B-Zentren) für Seltene osteologische Erkrankungen, dem Zentrum für Seltene Hormonerkrankungen, dem Huntington Zentrum Ruhr und dem Zentrum für Seltene Lungenerkrankungen gleich 4 Fachzentren mit international ausgewiesener Expertise und Beteiligung in Europäischen Referenznetzwerken (ERN) für Seltene Erkrankungen angesiedelt.
Das Centrum für Seltene Erkrankungen Ruhr - CeSER
Das CeSER wurde Anfang 2014 gegründet und verbindet als Kompetenznetz der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Witten/Herdecke Expert:innen, Kliniken und Institute, die an der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen beteiligt sind. Gemeinsames Ziel ist es, die Versorgung von Patient:innen mit Seltenen Erkrankungen im östlichen Ruhrgebiet und darüber hinaus durch fach- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern.
Das zertifizierte A-Zentrum des CeSER an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde des Katholischen Klinikums Bochum ist eine Anlaufstelle für Menschen mit Seltener Erkrankung und unklarer Diagnose, ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte und die Patientenselbsthilfe. CeSER übernimmt Koordinationsaufgaben in nationalen und internationalen Verbünden. Aktuelle Informationen finden Interessierte unter www.ceser.de
Ruhr-Universität Bochum
Die Ruhr-Universität mit 21 Fakultäten ist Heimat von über 40.000 Studierenden. In neun Research Departments arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der RUB gemeinsam an interdisziplinären Forschungsschwerpunkten. Die Bochumer Fakultät für Medizin zählt zu den Jüngsten in Deutschland. Die Universitätskliniken der Ruhr-Universität sind über mehrere Standorte in Bochum, Herne und Ostwestfalen verteilt. Mit mehr als 3000 Betten gehört die Bochumer Universitätsmedizin zu den größten deutschen Universitätskliniken.
Universität Witten/Herdecke
Die Universität Witten/Herdecke wurde 1983 als Bildungs- und Forschungsort gegründet. Mehr als 3.000 Studierende lernen und forschen hier in den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft in 16 Studiengängen. ww.uni-wh.de / blog.uni-wh.de